KURZGESCHICHTE das graue loch


Von Zeit zu Zeit gibt es hier Kurzgeschichten...

wie zum Beispiel diese hier, in der ich den Verlust eines geliebten Wesens verarbeite. 

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Das graue Loch

 

Eine Implosion – so muss sich das anfühlen…

 

Alles in mir fällt zusammen, meine Gedärme, mein Magen und schließlich sogar mein Herz. Ein unermesslich großes, graues Loch tut sich in mir auf und verschluckt jede Empfindung. Das Loch meint es gnädig mit mir. Hätte es sich in diesem Moment nicht aufgetan und diesen übermächtigen Schmerz eingesaugt, wäre ich auf der Stelle verrückt geworden oder augenblicklich an meinem gebrochenen Herzen gestorben.

 

Ein halbes Jahr liegt dieses Ereignis zurück und immer noch spüre ich Wehmut, Schmerz und Tränen in mir hoch kriechen. Das schützende graue Loch ist längst verschwunden und ich musste - und muss - mich meinen Gefühlen stellen. Tagtäglich werde ich an dich erinnert. Bilder von dir hängen an der Wand, entzückende Bilder von dir wunderbarem Wesen, das mein Herz so öffnen konnte, mit dieser liebenswerten Art, die mich dahin schmelzen ließ, die mich vertrauen ließ.

 

Dein Anblick auf dem Gleisbett ist unerträglich, von weitem sehe ich deine Silhouette. Meine Freundin Martha, die mir hilft, nach dir zu suchen, bewahrt mich vor dem Schlimmsten, indem sie mich zurückhält. Sie weiß nur zu gut, dass ich Blut nicht sehen kann und auf gar keinen Fall eine vom Zug zerteilte schwarze Katze in ihrem roten Blut.

Auch mein Herzensblut hat sich erschöpft. Ich bin grau, äußerlich und innerlich. Als gebrochene Frau schleppe ich mich die dreißig Meter zu unserem Haus, von Martha gestützt. Das graue Loch übernimmt das Kommando und mein verwirrtes Hirn bastelt sich abstruse Gedankenkonstrukte zusammen.

 

Nein, das kannst nicht du gewesen sein! Ich weigere mich, anzunehmen, was ist, stelle mir vor, wie du jeden Moment um die Ecke schleichst und mich freundlich und liebevoll begrüßt. Meine Phantasien kreisen wild und suchen nach Ausflüchten, nach Auswegen, um sich nicht mit diesem Verlust auseinandersetzen zu müssen. Nicht noch ein Verlust – nicht noch dein Verlust!

 

So viele sind schon gestorben, Mutter, Vater, Großeltern und viele geliebte andere Wesen, Menschen und Tiere. Einige davon starben einen Tod, der mehr oder weniger akzeptabel war.

Opa war im vierundachtzigsten Lebensjahr, er wünschte sich achtzig, den Rest sah er als gütige Zugabe. Papa wurde neunundsiebzig und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, überlebte er die Herzoperation nicht, doch im Grunde hatte er sein Leben gelebt. Etwas früher, bereits mit einundsiebzig, erwischte es meine Großmutter. Reichlicher Zigarettenkonsum, regelmäßiger Alkoholverzehr und eine ungesunde Lebensweise gestatteten ihr leider nicht, die Altersskala höher zu erklimmen. Bei drei Schlaganfällen, zwei Herzinfarkten, einer Totaloperation und Diabetes wundert es ohnehin, dass sie überhaupt einundsiebzig wurde. Ganz und gar nicht akzeptabel war, dass sie ihre Tochter und ich damit meine Mutter verlor. Das größte Trauma, das Eltern erleben können, denn die richtige Reihenfolge wird nicht eingehalten. Oma war sechzig, Mama einundvierzig und ich war erst acht Jahre alt. Obwohl der Ablauf für mich zeitlich stimmte, dass meine Mutter vor mir ging, war es nur entsetzlich, denn es war einfach viel zu früh.

 

Aus mancherlei Gründen wuchs ich bei meinen Großeltern auf, die durch den Verlust ihrer Tochter desillusioniert waren. So fand meine Kinderseele nicht immer den Schutz und die Zuflucht, die sie gebraucht hätte. Doch meine Tiere, vor allem meine Katzen, retteten mich. Sie trugen maßgeblich dazu bei, halbwegs ohne Macken erwachsen zu werden, sorgten für mein Seelenheil und hörten geduldig zu, wenn ich ihnen mein Leid klagte. Voller Vertrauen kuschelten wir zusammen und bei ihnen spürte ich die Wärme und Liebe, die mir die Erwachsenen oft nicht geben konnten. Dabei gab es immer wieder Tiere, die mir besonders viel bedeuteten.

 

Mein Mann birgt den halben Leichnam von den Gleisen, wickelt deinen Rest liebevoll in ein Tuch und trägt dich vorsichtig nach Hause. Er hebt ein Grab für dich im Garten aus. Ich bin ihm unglaublich dankbar, dass er das alleine bewältigt, mir ist es unmöglich, auch nur einen Finger zu rühren.

Ein sonniger, warmer Dienstag im August, unser zweiter Urlaubstag - das hatten wir uns anders vorgestellt.

 

Immer noch gefühlstaub stehe ich an dem kleinen Erdhügel. Unvorstellbar, dass du in dem kühlen Boden liegst mit deinem schwarzen, seidigen Fell, das mich äußerlich wärmte. Mit deiner speziellen Art, die mich innerlich wärmte.  

Unbegreiflich, dass ich dich nie mehr in den Armen halten kann, nie mehr dein Schnurren, dein zutrauliches Maunzen höre, nie mehr in deine wunderschönen grünen Augen sehe, die bis auf den Grund meiner Seele blicken konnten.

Unfassbar, dieser Verlust. Du fehlst mir so sehr!

  

 Mit deinem Tod werden mir alle Verluste, die ich erlitten habe, noch einmal bewusst. Nicht sofort, nein, das graue Loch verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen. Doch die Wahrnehmung, die Wahrheit wird deutlicher, je kleiner das graue Loch wird und der Schmerz wird noch einmal erlebt. Bittere Tränen rollen über meine Wangen, bei fast jedem Gedanken an dich. Ein bittersüßes Ziehen umwabert mein Herz.

 

Stellvertretend für alle Verlorenen in meinem Leben beweine ich dich schmerzlich.  Dich, meine kleine sanfte Kameradin, werde ich in diesem Leben nicht wieder sehen, doch ich erinnere mich voller Dankbarkeit und Liebe an dein Sein, dein Für-mich-da-Sein.

 

Leben heißt alles nehmen, das Gute und das Schlechte. Mal ist es viel von dem Einen, wenig von dem Anderen, und umgekehrt. Man muss die Dinge, die unumstößlich sind, akzeptieren wie sie kommen. Trauer und Schmerz wollen ebenso gefühlt werden wie Freude und Liebe und so spüre ich, dass nach dem dunklen Schatten wieder ein helles Licht in mein Leben kommt. Durch den Reigen meiner Ahnen - über meine Großmutter, meine Mutter und mich - eröffnet mir meine geliebte Tochter, dass nun auch sie Mutter wird! Ein neues Wesen findet den Weg in unsere Familie und ich freue mich darauf, dem kleinen Menschen fürsorglich und achtsam zu begegnen, ihm weitherzig meine großmütterliche Liebe zu schenken.

 

Eines Tages werde ich ihm Geschichten erzählen, von seinen Vorfahren, den treuen Tieren, die mein Leben so geprägt haben und ganz bestimmt von dir, meiner zauberhaften schwarzen Katze.

Bullibu

 


Bullibu